Man braucht schon viel Fantasie, um aus dem Aufklärer Immanuel Kant einen russischen Kriegsphilosophen zu machen. Ausgerechnet zum 300. Geburtstag des Philosophen. Das konnte auch der Redner Olaf Scholz am Montagabend nicht auf sich sitzen lassen, als er in Berlin auf dem großen Festakt zum Geburtstag Kants nun die Gelegenheit ergriff, um der Vereinnahmung Kants durch die Kriegspropaganda des russischen Präsidenten Wladimir Putin entgegenzutreten. Scholz sprach über Kants Schrift Zum ewigen Frieden, eben jenen Entwurf, in dem Kant eine internationale Weltordnung skizziert hatte, die zu immer mehr Frieden führt. Und der deutsche Bundeskanzler ließ keinen Zweifel daran, wohin Kant gehört, der in Königsberg, der heutigen russischen Enklave Kaliningrad, geboren wurde.

Scholz nahm Russlands Vereinnahmung von Kant regelrecht auseinander. Von Putins fadenscheiniger Behauptung, dass ausgerechnet der Friedensdenker Kant sein "Lieblingsphilosoph" sei, hin zu jüngsten Äußerungen aus dem russischen Machtapparat, dass Kant eigentlich für den Ukraine-Krieg verantwortlich sei: Kein Denker repräsentiere so sehr den aggressiven Geist von Universalismus und individueller Selbstbestimmung, mit dem der Westen immer wieder Kriege heraufbeschworen habe, lautete kürzlich der verstörende Vorwurf des Gouverneurs von Kaliningrads, Anton Alichanow. Verstörend deshalb, weil es Putins Russland war, das die Ukraine 2022 überfiel. 

Man konnte Olaf Scholz in Berlin nun eine gewisse Genugtuung ansehen, mit der er die falschen Freunde Kants in die Flucht schlug. Putin nutze eine "verwirrende Vielfalt von Begründungen", um seinen Angriffskrieg gegen das Nachbarland zu rechtfertigen. Dass es ausgerechnet sein SPD-Parteigenosse Gerhard Schröder war, der 2005 als Bundeskanzler zusammen mit Putin die Kaliningrader Universität in Immanuel-Kant-Universität umbenannte, verschwieg der Kanzler in seiner Rede allerdings. Auch damals zeigte sich schon, wie umstritten das Erbe Kants zwischen Russland und Deutschland ist.

Es sei aber nicht nur der Krieg gegen die Ukraine, der allem widerspreche, was Kants Philosophie auszeichne, sagte Olaf Scholz nun. Der Kanzler machte ebenfalls deutlich, dass Putin auch auf die eigenen Bürger keine Rücksicht nehme und sie – in den Worten Kants – als "nach Belieben zu handhabende Sache gebraucht und verbraucht". Genau diese Instrumentalisierung laufe der "Verzweckung" von Menschen zuwider, die Kant mit seinem Beharren auf der Würde des Menschen immer angeprangert hatte. Schon deshalb habe Putin nicht die geringste Berechtigung, sich auf Kant und seine Philosophie zu berufen: "Aufklärung und Angriffskrieg – das passt nicht zusammen", sagte Olaf Scholz. "Kategorischer Imperativ und Kriegsverbrechen – das passt nicht zusammen."

Nun ist es klar, dass Kants Philosophie keine praktische Handreichung bietet. Und auch Olaf Scholz konnte für den Krieg in der Ukraine und den im Gazastreifen keine politischen Ratschläge aus Kant herausvernünfteln. Aber ohne ein paar triftige Maximen, wie dauerhafter Frieden dort möglich sei, wo heute noch erbittert Krieg geführt wird, wollte Olaf Scholz die Festgesellschaft der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die den Geburtstagsakt ausrichtete, dann auch nicht gehen lassen.

Der eine Hinweis von Scholz betraf die Frage, zu welchen Bedingungen die Kriegsparteien Frieden schließen können. Für Kant sei klar: Wer angegriffen werde, dürfe sich nicht nur verteidigen, sondern sei auch nicht gezwungen, sich einem Friedensvertrag zu unterwerfen. Scholz plädierte für Kants Warnung, sich nicht auf einen Frieden einzulassen, der mit dem Vorbehalt geschlossen wird, dass er die Begründung eines künftigen Kriegs oder nur dessen Wiederaufnahme bereits enthalten könnte. "Wir alle wünschen uns Frieden für unsere Zeit. Aber ein Frieden um jeden Preis – das wäre keiner."

Der andere Hinweis von Scholz betraf die Frage nach den angemessenen Mitteln: Es sei, so der Kanzler, im Krieg notwendig, auf sämtliche Methoden zu verzichten, die jedes Restvertrauen zwischen Kriegsgegnern zerstören und so einen späteren Frieden zwischen ihnen unmöglich machen würden. Man konnte darin durchaus eine Anspielung auf die Frage erkennen, warum Scholz in den vergangenen Wochen sich immer wieder gegen die Lieferungen von Taurus-Marschflugkörpern ausgesprochen hatte. Eine Restrationalität muss im Krieg bleiben, auf beiden Seiten. Und deshalb darf auch vom Westen nicht unnötig eskaliert werden.

Auch der deutsche Kanzler benutzt Kant, um Politik zu machen

Und so blieb die entscheidende Frage einmal mehr offen, ob die Ukraine den Krieg gewinnen müsse oder diesen nur nicht verlieren dürfe, wie der Kanzler zuletzt immer gesagt hatte. Sosehr sich Olaf Scholz an diesem Abend in Berlin immer wieder von Putin abgrenzte und versuchte, den Friedensdenker Kant aus den Klauen des Kriegstreibers Wladimir Putin zu befreien, so sehr benutzte auch er Kant, um selbst Politik zu machen. Nicht ausdrücklich, aber durchaus vernehmbar.

Die Entscheidung zwischen einem russischen Kant und einem europäischen Kant mag einem aus westlicher Perspektive noch leichtfallen. Dafür muss man noch nicht einmal schrecklich viel Kant gelesen haben, geschweige denn einem aufwendigen Festakt beiwohnen. Zur Wahrheit an diesem Abend gehörte auch, dass Scholz aus dem Universalisten Kant, dem Erfinder des kategorischen Imperativs, einen Appeasement-Philosophen machte, der politische Entscheidungen danach beurteilt, ob sie dem Frieden eher dienlich oder unzuträglich sind, ob sie ihn eher ermöglichen oder verhindern werden. Lauter hypothetische Imperative.

Doch wie auch immer man zu Scholz' Ukraine-Politik stehen mag, die bloße Tatsache, dass hier ein Regierungschef über das Geschäft der Aufklärung sprach, über Vernunft und Öffentlichkeit, gibt einem die Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist. Während auf der einen Seite ein russischer Präsident ausufernde historische Exkurse hält, um zu beweisen, dass die Ukraine schon immer zu Russland gehört habe, und auf der anderen Seite die Wahl eines US-Präsidenten Trump droht, der einem Verteidigungsbündnis wie der Nato äußerst kritisch gegenübersteht, ist der auch jetzt wieder zögerliche deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ein Beispiel dafür, warum mit Kants moralischem Universalismus auch in einer multipolaren Weltordnung, in einer Zeit der großen autoritären Versuchung, trotz allem zu rechnen ist: Kants geistiges Erbe lässt sich von keiner Seite politisch vereinnahmen.