Exklusiv! Selenskyj im Kriegs-Interview: Kanzler Scholz fürchtet Putins Atom-Drohung

Ukraine-Präsident erklärt, warum Deutschland keine Taurus liefert

Selenskyj im Schützengraben: „Putin will Charkiw einnehmen“

Quelle: BILD

Die Ukraine befindet sich in der schwersten Krise seit der russischen Groß-Invasion im Februar 2022: den Streitkräften geht die Munition aus, die Luftabwehr kann die russischen Angriffe nicht mehr abwehren. Moskau intensiviert seine Bombenangriffe auf ukrainische Städte, die Rede ist von einer neuen Großoffensive auf die Millionenmetropole Charkiw.

Außerhalb der Stadtgrenzen heben Soldaten schon Gräben aus, um sich auf den Ansturm der Russen vorzubereiten. In Begleitung von BILD-Reportern besichtigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (46) heute die neuen Verteidigungsanlagen – und empfing Paul Ronzheimer anschließend an einem geheimen Ort zum großen Kriegsinterview mit BILD und anderen Medien von Axel Springer.

Großangriff auf Charkiw?

Der Präsident machte sofort klar, dass er einen russischen Großangriff auf Charkiw (mehr als 1 Mio. Einwohner) nicht ausschließt. So wie Kreml-Diktator Wladimir Putin (71) es bereits zu Kriegsbeginn versucht hat. „Putin wollte natürlich Charkiw einnehmen, weil es für ihn ein großes Symbol ist“, so Selenskyj. „Charkiw ist eine der Hauptstädte der Ukraine, deshalb hat es eine große symbolische Bedeutung.“ Doch die Ukraine sei bereit, Russlands Eroberungspläne zu vereiteln: „Wir machen alles, um das nicht zuzulassen.“

Gleichzeitig gibt Selenskyj zu, dass Russlands Angriffe auf die Energie-Infrastruktur Erfolg haben. „Das hat großen Einfluss auf den Krieg“, sagte der Präsident offen. „Die Angriffe auf die Energieversorgung fügen der Bevölkerung und den Städten großen Schmerz zu.“

Vor Charkiw besichtigte Selenskyj die neuen Verteidigungsanlagen

Vor Charkiw besichtigte Selenskyj die neuen Verteidigungsanlagen

Foto: Ukrainian Presidential Press Service/via REUTERS

Putins Wunsch: „Die gesamte Ukraine einnehmen“

Selenskyj bitter: „Die Luftabwehrsysteme, die wir haben, reichen nicht aus.“ Und das reize den russischen Diktator nur noch mehr: „Putin versteht nur Macht. Er fühlt wie ein Tier: Wenn du dich nicht verteidigen kannst, wird er noch mehr zerstören.“ Denn: „Sein Wunsch ist es, die gesamte Ukraine einzunehmen.“

Erst kürzlich gab Selenskyj zu, dass eine Niederlage gegen Russland nun möglich erscheint, falls die USA das neue Waffenpaket nicht freigeben. Im BILD-Interview erklärt der Präsident, was das bedeuten würde. „Er wird alles zerstören. Er wird sehr viele Menschen töten“, so der Ukrainer. „Die meisten Menschen werden nicht weglaufen, also wird er viele von ihnen umbringen. Wie es aussehen wird? Es wird viel Blut geben. Es wird viele Opfer, viele Verluste geben. Wir sprechen von Hunderttausenden.“

Kann sich die Ukraine noch verteidigen?

Wie üblich bittet Selenskyj um Waffen. Doch diesmal legt er den Fokus nicht auf Panzer oder Raketen – sondern auf Luftverteidigung. Um seine Bürger vor den niederprasselnden russischen Drohnen und Raketen zu beschützen. „Wir brauchen vor allem die Luftabwehrsysteme. Als Erstes müssen wir uns verteidigen können.“

Außerhalb von Charkiw: Selenskyj im Gespräch mit BILD-Vize Paul Ronzheimer

Außerhalb von Charkiw: Selenskyj im Gespräch mit BILD-Vize Paul Ronzheimer

Foto: Giorgios Moutafis

Er ist stolz, dass die Ukrainer große militärische Erfolge mit ihren Drohnen feiern können. „Wir haben eine gute Drohnen-Produktion“, sagt Selenskyj, macht jedoch klar: „Aber Drohnen ersetzen keine Luftabwehr, keine Langstrecken-Raketen und keine Artillerie.“ Sprich: mit Drohnen allein kann sich die Ukraine weder verteidigen noch angreifen.

Warum liefert Scholz keine Taurus?

Brisant ist, was Selenskyj über Deutschlands Weigerung sagt, die hochmodernen Taurus-Marschflugkörper zu liefern.

„Unsere Partner haben bestimmte Waffen, die wir heute brauchen, um zu überleben. Die Ukraine braucht sie, um zu überleben und ich verstehe einfach nicht, warum wir diese Waffen nicht bekommen“, sagte der ukrainische Präsident. Damit meine er Taurus, aber auch amerikanische ATACMS-Kurzstreckenraketen und F-16-Kampfjets.

Weshalb Deutschland die Taurus nicht liefern will?

„Wir sprechen über das Thema. Ich denke, das Thema ist nicht so einfach“, sagte Selenskyj. „Soweit ich es verstehe, sagt der Bundeskanzler, dass Deutschland keine Atommacht ist und dass es das stärkste Waffensystem in Deutschland ist.“ Und Scholz könne sein Land nicht ohne dieses Waffensystem zurücklassen.

Fürchtet der Kanzler Putins Atom-Drohungen?

Ob die Nichtlieferung der Taurus etwas mit Putins Atomdrohungen zu tun habe?

Scholz sage, „dass es so ist“, antwortete Selenskyj. „Aber ich denke nicht, dass das die Welt vor der atomaren Gefahr seitens Russland schützen wird.“

Haben laut Selenskyj ein „gutes Verhältnis“: Kanzler Scholz und der ukrainische Präsident

Haben laut Selenskyj ein „gutes Verhältnis“: Kanzler Scholz und der ukrainische Präsident

Foto: Kay Nietfeld/dpa

Keine Waffe könne im Falle eines Atomkriegs wirklich nützlich sein, auch nicht amerikanische ATACMS noch F-16-Flugzeuge.

Brisant ist die Antwort deshalb, weil Bundeskanzler Olaf Scholz (65, SPD) sein Taurus-Nein bislang anders begründete: und zwar damit, dass er Deutschland nicht zur Kriegspartei machen möchte. Mit den Taurus-Geschossen könnte die Ukraine nämlich auch Ziele innerhalb Russlands angreifen.

Krieg einfrieren? Nur „eine Pause für Putin“

Ausdrücklich lobt Selenskyj sein Verhältnis zu Scholz, warnt aber auch, auf Stimmen wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich (64) zu hören, die den Krieg „einfrieren“ wollen. Scholz werde „kein Friedenskanzler sein, wenn er diesen Krieg einfrieren möchte“, so der Ukrainer.

Selenskyj zufolge werde Putin einen eingefrorenen Krieg nur nutzen, um sich auf einen neuen Angriff vorzubereiten. „Natürlich, ein Teil der Menschen wird sich freuen. Die Welt wird sagen: ,Ja, es ist uns gelungen, den Konflikt einzufrieren, die Raketen fliegen nicht.' Das ist nur bis zu dem Moment, bis Russland die Produktion und die Vorräte von Militärtechnik, Raketen, Drohnen einfach vergrößert und alle Fehler analysiert hat, die es am Anfang gemacht hat.“

Macht deutlich, dass er Putin nicht traut: Ukraine-Präsident Selenskyj

Macht deutlich, dass er Putin nicht traut: Ukraine-Präsident Selenskyj

Foto: Giorgos Moutafis

Der Präsident warnt eindringlich, an eingefrorene Kriege zu glauben: „Es ist wie eine Pause, wenn man sich einen Film anschaut. Aber es ist kein Film, sondern die Realität. Es ist eine Pause. Aber diese Pause ist für Putin.“

Selenskyj: Wir können Russland noch immer besiegen

Doch die derzeit große Hoffnung der Ukrainer, das machte Selenskyj klar, liege nicht in einem einzelnen Waffensystem aus Deutschland. Sondern im milliardenschweren Hilfspaket der Amerikaner, das seit Monaten von Republikanern im Kongress blockiert wird.

Nur mit modernen Waffen könne die Ukraine Putins Armee schlagen: „Ja, Russland hat mehr Menschen, mehr Waffen. Aber die modernen Waffensysteme hat der vereinigte Westen. Deshalb werden wir bestimmte Technologien erhalten. Und wenn wir die Produktion weiter steigern, wenn wir von unseren Partnern Lizenzen bekommen, dann geht es nicht um die Anzahl der Menschen. Es geht um die Qualität der Waffen.“

Der ukrainische Präsident macht klar: „Ja, wir haben einen Plan für eine Gegenoffensive.“ Doch auch dafür braucht es Waffen. Auch aus den USA.

Trump will in die Ukraine reisen

Wohl auch deshalb hat Selenskyj bereits Kontakt zu Donald Trump (77) aufnehmen lassen, Ex-Präsident der USA und Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Er ist es, der das Hilfspaket blockieren lässt und Stimmung gegen die Ukraine macht.

„Ich selbst habe ihn nicht angerufen. Wir haben ihn öffentlich und auch nicht-öffentlich in die Ukraine eingeladen“, so Selenskyj. „Wir haben den Wunsch geäußert, dass Donald Trump in die Ukraine kommt, damit er mit seinen Augen die Situation sieht und bestimmte Schlüsse zieht. Ich bin auf jeden Fall bereit, mich mit ihm zu treffen.“

Trump habe gesagt „… dass er will, aber dass er nicht weiß, wann er das tun kann“. Bald? „Ich hoffe es.“

Trumps Friedensplan? „Sehr primitiv“

Ein Bericht der „Washington Post“ über Trumps angeblichen Friedensplan macht Selenskyj allerdings skeptisch. Demzufolge soll die Ukraine Teile ihres Ostens sowie die Krim an Russland abtreten – im Gegenzug für schweigende Waffen.

Selenskyj: „Wenn der Deal darin besteht, dass wir einfach unsere Territorien abgeben und wenn das die Idee ist, dann ist die Idee sehr primitiv. Ich denke, wenn Trump tatsächlich einen eigenen Ansatz hat, um den Krieg schnell zu beenden, dann würde ich mir sehr gerne die Idee anhören. Aber wir brauchen starke Argumente. Wir brauchen keine fantastische Idee, sondern eine reale. Es geht hier um Menschenleben, wir können keine Witze machen und keine Risiken eingehen.“

Selenskyj ließ sich zeigen, wie die Verteidigungsanlagen vor Charkiw errichtet werden – für den Fall der Fälle, den russischen Großangriff

Selenskyj ließ sich zeigen, wie die Verteidigungsanlagen vor Charkiw errichtet werden – für den Fall der Fälle, den russischen Großangriff

Foto: Ukrainian Presidential Press Service/via REUTERS

Der ukrainische Präsident macht klar, dass er mit Putin nicht verhandeln will und auch nicht bereit ist, Territorien abzugeben. Denn dem Moskauer Machthaber sei nicht zu trauen: „Wir haben es hier mit Putin zu tun. Alles, was er bisher gesagt hat – danach hat er anders gehandelt. Wir können ihm nicht vertrauen.“ Auf Absichtsbekundungen aus Russland gibt er wenig: Man könne sich „auf alles einigen, aber es geht darum, ob er sich daran halten wird“.

So spricht Selenskyj mit seinem Sohn über den Krieg

Dann wird Selenskyj emotional. Darauf angesprochen, ob sich auch sein 11-jähriger Sohn Kyrylo vor einer Niederlage gegen Russland fürchte.

Der ukrainische Präsident spricht über Krieg, wird aber fast schon zärtlich: „Er stellt die Frage: Wann werden wir siegen? Er ist elf, aber ich bin sicher, er ist genauso wie die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer.“ Und wie ein Kind möchte Kyrylo einen Sieg sehen, herbeigeführt von seinem Papa.

Dann wird Wolodymyr Selenskyj wieder ernst und hart: „Wir werden auf jeden Fall siegen. Wir haben keine Alternative. Aber das zu versprechen und ein Datum nennen, das kann ich nicht tun. Ob es mein Sohn ist oder ob es andere Bürger der Ukraine sind, das spielt keine Rolle.“ Er müsse hier ehrlich sein, auch mit seiner eigenen Bevölkerung.

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